Wiederhole ich mich, wenn ich sage „Ich liebe es, auf Pässen zu übernachten?“. Egal, man kann das nicht oft genug betonen. Auch in diesem Fall war es ein Genuss, die frühe Morgensonne durchs Zimmerfenster unserer Almhütte im Gesicht zu spüren. Auch wenn der Wecker noch nicht mal 6:00 Uhr zeigte. Den anderen ging es auch so und wir nutzten das schöne Morgenlicht für ein paar Fotos und ich fuhr auch eine kleine Runde zurück Richtung Dosso dei Galli auf dem Schotterpass.

Zurück im Rifugio gab es bei Bud Spencer ein rustikales Frühstück, bevor wir uns talwärts den Crocedomini hinunter arbeiteten Richtung Breno. Die Strasse wurde wohl kurz zuvor zum Vieh-Auf- oder Abtrieb genutzt, der Vielzahl der Kuhfladen auf der Fahrbahn nach zu urteilen. Da nutzt dann auch ein frischer Asphalt nix. Egal, so kurz nach dem Frühstück war es uns eh nicht nach beschleunigter Fahrweise.

Im Tal angekommen folgen wir eine Weile der SS42, bis wir in Incudine den Abzweig zur Ostrampe des Passo di Mortirolo erreichen. Der Mortirolopass ist mit der Auffahrt von Mazzo di Valtellina seit 1990 etwa alle zwei Jahre Teil der Italien-Radrundfahrt Giro d’Italia. Mit einem durchschnittlichen Anstieg von 10,5 % über 12,4 km zählt er zu den Bergwertungen der 1. Kategorie. Insgesamt sind 1.300 Höhenmeter bei einer maximalen Steigung von 18 % zu überwinden. Die Scheitelhöhe beträgt 1852 m. Wir merken sofort die Beliebtheit des Passes unter den Fahrradfahrern, denn alle paar Meter überholen wir Grüppchen oder Einzelfahrer, die sich tapfer den Berg hoch kämpfen. Der Pass ist durchgängig asphaltiert, teilweise sehr schmal aber auf jeden Fall etwas für den Genießer. Auch die Westrampe runter nach Mazzo di Valtellina ist sehr reizvoll. So reut es mich gar nicht, den auch sehr schön zu fahrenden Gavia-Pass in der Routenplanung ausgelassen zu haben.

Zurück im Tal ist es nur ein kurzes Stück nach Tirano. Als Vorankündigung unseres bevorstehenden Grenzübertritts in die Schweiz kommt uns im Ort selber der Bernina Express der Rätischen Bahn entgegen. Mitten auf der Strasse. Der Zug befährt die legendäre Bahnstrecke von St. Moritz über den Berninapass bis eben Tirano.

Die Grenzpolizisten wollen nichts von uns wissen uns so rollen wir – uns streng an die schweizerische Speed-Limite haltend – durch die wunderschöne Natur Graubündens. Kaum ist man in der Schweiz, hat man das Gefühl, dass alles gleich viel ordentlicher und aufgeräumter ist. Natürlich ist das Blödsinn, aber wir geniessen das unfassbare Panorama um uns herum und mit weiterem Weg Richtung Berninapass die weiten, geschwungenen Kurven, die wir so genussvoll durchzirkeln.

Oben auf der Passhöhe am Lago Bianco angekommen machen wir kehrt und fahren zurück bis zum Abzweig nach Livigno und sind nach der Forcola di Livigno wieder zurück auf italienischem Hoheitsgebiet. Leicht beschwingt geht es ins Tal hinunter und der dringend notwendige Tankstopp wird bei einem Literpreis von 1,56€ bereitwillig eingelegt.

Das Livigno-Tal besticht durch sehr viele Stein- und Holzhäuser und es wirkt manchmal, als ob die Zeit seit 100 Jahren stehen geblieben ist. Kurz vor Livigno geht es rechts weiter auf die SS301 und den 2.210 m hohen Passo d’Eira und den Passo di Foscagno, der auch 2.291 m in die Höhe ragt. Das sind 400 Höhenmeter mehr als das Hahntennjoch, komischerweise fühlt es sich gar nicht so hoch an, weil man keinen Riesen-Anstieg hinter sich hat.

Das sollte sich beim kommenden Passo di Fraele ändern, der liegt zwar nur auf 1.955 m, aber man startet auch niedriger aus dem Ort Isolaccia auf 1.345 m. Und selten habe ich so ein spaghettieskes Kurvengewurschtel gesehen wie hier. Das meiste Gelände ist frei einsehbar, was es noch umso spektakulärer macht.

Im Gegensatz zu vielen anderen norditalienischen Gebirgsstraße wurde der Passo di Fraele nicht aus militärischen Gründen angelegt. Er wurde benötigt, um den Transport des Baumaterials für die Errichtung eines Wasserkraftwerks und eines Staudamms am Lago di Cancano zu gewährleisten. Die Torri del Fraele stammen aus dem 13. Jahrhundert und waren Teil einer größeren Wehranlage, von der nur noch die beiden Türme übrig geblieben sind.

Wer an den Türmen vorbei fährt, kommt zu zwei Stauseen, die hintereinander gebaut sind und die auf einer Schotterstrasse umfahren werden können. Nach der ersten Staumauer machen wir aber kehrt und fahren zurück ins Tal.

Als wir in einer Kurve talwärts für ein Foto anhielten, bog ein mir sehr bekanntes Motorrad ums Eck. Es war Thomas auf seiner VFR, der leider nicht die Tour mit uns fahren konnte, aber den es dann doch so gejuckt hatte, dass er uns am vorletzten Tag entgegen gefahren kam. Große Freude, vor allem bei mir. Aus besagten Gründen.

Nico und Stephan fuhren schon mal voraus hoch aufs Stilfser Joch, ich ballerte mit Thomas noch gemeinsam nach Bormio, da er noch tanken musste und beschwingt nahmen auch wir anschliessend die Südrampe des Stelvio unter die Räder. Kurz vor 19:00 Uhr waren wir auf der Tibethütte, genau rechtzeitig um beim ersten Stiefelbier einen weiteren Gast beim sehr schnellen Hochschnüren der Nordrampe des Stelvios zu beobachten: Jürgen Theiner hat es sich nicht nehmen lassen, sich zum Abendessen auf seinem Hausberg zu uns zu gesellen. Auch das freute mich sehr, da Jürgen und ich schon seit Jahren im Austausch sind und noch nie die Gelegenheit hatten, uns persönlich zu treffen.

So neigte sich ein wundervoller Fahrtag dem Ende zu und auf all die tollen bisherigen Eindrücke kamen noch ein paar weitere tolle dazu.

Für die knapp 225 km der Tagesroute kommt man mit 5-6 Fahrstunden hin, der eine oder andere Genuß-Stopp sei jedoch dringend empfohlen.

Die Route findet ihr unter https://kurv.gr/aPvdy zur Ansicht und unter https://kurv.gr/BSZQu zum Download.

Gesamtüberblick der Tour