Es gibt keine zweite Chance für den ersten Eindruck

Die Sonne berührt schon fast den Horizont und taucht die gelb blühenden Rapsfelder der Holldedau in stimmungsvolles Abendlicht. Ich beeile mich nach dem Arbeitstag und düse voller Vorfreude von München in Richtung Norden, nach Pfaffenhofen an der Ilm. Mein erster Pressetest liegt vor mir und die kurvige Strecke zwischen der A9 und dem Zielort zaubert mir ein vorfreudiges Grinsen unter den Helm. Ich weiß, dass mich ein toller Tag mit viel Sonne und guter Stimmung erwartet.

Royal Enfield Scram 411 vor dem Rapsfeld in der Hallertau
Royal Enfield Rapsodie in der Hallertau

Einen großen Teil zu dieser Vorfreude trägt Kai Petermann bei. Den Marketingmanager von Royal Enfield durfte ich am Samstag vor dem Test beim Meet the Makers bereits kennenlernen und kurz interviewen. Er hat die Ankunft am Hotel medienwirksam gestaltet: eine metallic-glänzende, leicht von Blütenstaub mattierte Royal Enfield Scram 411 in der Sonderfarbe Silver Spirit flankiert den Eingang. Hier bin ich also richtig! Mit freudigem Lächeln begrüßt er mich, ebenso wie die anderen Jungs von Royal Enfield. Es wird viel gescherzt und gelacht und nach und nach trudeln auch die weiteren Gäste ein. Wir verbringen einen gemütlichen Abend voller Benzingespräche und leckerem bayerischen Essen in lockerer Atmosphäre. Die passende Einstimmung also auf den folgenden Tag.

Um 08:00 Uhr am nächsten Morgen geht es los zur Eventlocation, die 5 Minuten vom Hotel entfernt liegt. Die kühle, von Sonnenstrahlen durchzogene Morgenluft verspricht einen warmen Tag zum Motorrad fahren. So mag ich das.

In der großer Einfahrt, die mit tiefem Kies bedeckt ist (meine persönliche Vorhölle), stehen schon die Testmotorräder: ein Dutzend Scram 411 in den drei Basisfarben Graphite Red, Graphite Blue und Graphite Yellow, ebenso wie die zweite Sonderfarbe White Flame. Ansonsten sehen die Motorräder gleich aus. Keine Taschen, kein Sonderzubehör, kein Schnickschnack.

Die Kieseinfahrt mündet in einen grün bewachsenen Garten mit Pavillion und Loungeecke. Eine pfefferminzfarbene, zur Kaffeebar umgebaute Piaggio Ape mit Weißwandreifen steht auf der Terrasse, flankiert von einem Royal Enfield Oldtimer. Alle Zeichen stehen auf Rundscheinwerfer und klassischen Linien, der ältesten Motorradmarke der Welt gebührend.

Da wirkt die Scram 411 schon fast wie die kleine Rebellin der Familie. Die Punkrockerin mit bunt gefärbtem Haar, deren Eltern zu Musik von Vivaldi und Bach den Nachmittagstee genießen. Sie sticht durch ihre frischen Farben und die aufgesetzte Seitenverkleidung heraus. Dafür bekommt sie von mir sehr viele Sympathiepunkte.

Royal Enfield Technikcheck am Morgen

Der Unterschied zu ihrer Basis, der Himalayan, ist speziell im vorderen Bereich eindeutig zu erkennen. Das um zwei Zoll kleiner gewordene 19″ Vorderrad wird ebenfalls von einer 41 mm Teleskopgabel geführt, welche 190 mm anstatt 200 mm Federweg aufweist. Das Federbein hat 180 mm Federweg und die Bodenfreiheit ist um 20 mm auf 200 mm gesunken.

Auch der 411ccm-Motor mit 24,3 PS und 32 Nm bei 6500 Umdrehungen ebenso wie das 5-Gang-Getriebe wurden aus der Himalayan übernommen. Der Lenker der Royal Enfield Scram 411 ist tiefer und die geometrieoptimierte Sitzbank soll mit ihren 750mm Sitzhöhe bequemer sein als die offroadorientiertere Schwester. Die Front ist im Gegensatz zur Himalayan gabelfest, nicht rahmenfest und das Heck wurde kürzer.

Alles in allem wirkt die Scram 411 auf mich mehr aus einem Guss, proportionaler und attraktiver als die Himalayan. Allerdings frage ich mich immer noch, wie ich dieses 185kg schwere Motorrad plus dem Gewicht von 15 Litern Benzin aus dem Kies manövrieren soll. Naja, das wird sich zeigen. Aber mit 3,2 Litern Verbrauch auf 100 km habe ich einige Versuche offen, soviel steht fest. Und es ist diesbezüglich von Vorteil, dass keines der Testmotorräder den Heckumbau der Himalayan hat, mit welchem man die Koffer bzw. Hecktaschen selbiger ebenfalls nutzen könnte.

Nach der Technik geht es dann endlich an die Motorräder. Ich habe mir vorab eine Scram 411 in Graphite Blue ausgesucht und bin noch mit der Wahl zufrieden, wobei mir die klassische rot-weiße Farbkombination auch sehr gut gefällt. Während der Fragestunde habe ich mir die Royal Enfield App aufs Handy geladen, denn es gibt ein feines Highlight an diesem kleinen Motorrad. Neben dem analogen Tacho, der sich im Dreiviertelkreis um ein digitales Zentralinstrument schmiegt, befindet sich die serienmäßige turn by turn-Navigation. Das Google Maps-basierte Kartenmaterial der Royal Enfield App lässt sich gewohnt einfach bedienen und die App verbindet sich in Sekundenschnelle mit dem Motorrad. Das will ich später auf jeden Fall testen.

Lasset den Spaß beginnen

Nun aber Helm auf und Motor an. Der kleine Einzylinder spring sofort fröhlich an und tuckert mit niedriger Leerlaufdrehzahl vor sich hin. Trotz all meiner Befürchtungen schiebt sich die Scram 411 zielstrebig und sicher durch das Meer an Kies. Die erstem Meter sind also ein voller Erfolg. Wenig Drehmoment verursacht wenig Traktionsverlust, das gefällt mir!

Unser Road Captain heißt Bernie und ist der Geschäftsführer von Iwan Bikes, dem Royal Enfield-Händler in Pfaffenhofen. Er kennt die Gegend wie seine Westentasche und führt unsere Gruppe von 10 Motorrädern durch die blühenden Felder und ländlichen Orte. Die Scram 411 macht es mir leicht und ich fühle mich sofort wohl. Die Sitzposition ist angenehm und intuitiv, nicht zu cruisig und nicht zu sportlich. Mein Oberkörper ist aufrecht im Wind und der Lenker hat eine angenehme Breite. Die Fußrasten befinden sich unterhalb meines Körperschwerpunkts und erlauben eine aktive Fahrhaltung ebenso wie entspanntes Fahren.

Über den Schleifpunkt der Kupplung muss ich ebenfalls keine Sekunde nachdenken. Die Handkraft ist trotz Seilzug nicht hoch und lässt sich einfach bedienen. Einzig nach dem Abbiegen, wenn ich am Gasgriff drehe, könnte die Maschine gerne ein wenig spritziger und zügiger beschleunigen. Aber die 185 kg ohne Kraftstoff und die 24,3 PS sprechen einfach für sich.

Unsere Gruppengeschwindigkeit bewegt sich zwischen 80 km/h und 110 km/h, ich bestaune die schöne Landschaft und freue mich über die Agilität, mit der die Scram 411 in die Kurve fällt. So einfach kann Motorrad fahren sein. Motor an, Sorgen aus. Einfach losfahren und entschleunigen, die Gedanken schweifen und das Motorrad rollen lassen. Während der Fahrt mustere ich meine Mitfahrer: von knapp unter 1,70 m bis etwas über 1,90 m sind alle möglichen Größen und Ergonomietypen vertreten. Trotzdem scheint sich aber niemand unwohl zu fühlen. Die kleine Scram 411 kommt mit allen zurecht, oder alle mit ihr.

Mir macht die spielerische Gruppendynamik mit mehreren gleichen Motorrädern richtig Spaß. Im normalen Leben unter großvolumigen und leistungsstarken Maschinen würde ich mich eher untermotorisiert fühlen, hier ist aber alles genau richtig und macht einfach richtig Laune.

Dieses Feedback erfahre ich auch beim ersten Zwischenstop von den anderen Testern, während wir über die schönste Farbe fachsimpeln und die ersten Eindrücke vergleichen. Der einzige Punkt, den nicht nur ich gerne verbessert hätte, ist die Bremse. Die Einscheiben-Bremsanlage mit Zweikolben-Schwimmsattel ist in meinem Augen etwas träge. Man muss ordentlich am Bremshebel ziehen und die Maschine wird für mein Empfinden etwas unruhig, wenn man stärker bremst. Der Vorteil im Gesamtkonzept ist aber, dass man nie wirklich zu schnell ist, um eine Notbremsung nicht mehr zu schaffen. Daher mache ich mir auch darum keine großen Gedanken. Das Motorrad ist ehrlich und nicht over-engineered, einfach liebenswürdig.

Fazit des Tages: Scram 411 up your life!

Der Tag schreitet in schnellen Schritten voran und die Zeit verfliegt. Neben einer Mittagspause im Garten der Eventlocation steht noch eine car to bike-Fotosession und ein geheimer Ausflug in eine Kiesgrube auf dem Programm. Wir durften zum Fotografieren kurz in den Dreck und auch das hat richtig Spaß gemacht. Für mich mit 1,82 m Körpergröße war die Position im Stand etwas ungemütlich. die Seitenverkleidungen waren etwas zu weit außen und auch der Lenker zu niedrig. Aber das ist absolut nicht der Anspruch. Die Dual Purpose-Bereifung hat auf dem losen Untergrund gut mitgemacht. Falls man die Scram 411 also auf Reisen über die ein oder andere Schotterstraße jagen möchte, ist sie dafür gut und gerne zu haben.

Auf der Rückfahrt von der Kiesgrube konnte ich noch das Navi testen, welches mich echt begeistert. Die Pfeile sind sehr gut sichtbar, auch im peripheren Sichtfeld. Unterstützt wird dies von einer Farbskala im Digitaldisplay, die den Abstand bis zum nächsten Abbiegeereignis farblich von grün über gelb bis rot begleitet. Einfach und effektvoll, vor allem wenn man nicht auf Landkartenorigami oder riesige Navigatoren im Sichtfeld steht.

Zurück an der Location stelle ich die Scram 411 glücklich zurück in den Kies und blicke in die ebenfalls lächelnde Gesichter der anderen Tester. Die allgemeine Zusammenpack- und Rekapitulationszeit nutze ich abschließend, um mit Bernie, Kai und Konstantin über das Motorrad und den Tag sprechen. Die Stimmen der drei könnt ihr in der zugehörigen Folge TwinSpark Podcast hören.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich die kleine Scram wirklich in mein Herz geschlossen habe. Ein paar Nachteile hat sie in meinen Augen. Die bereits erwähnte Bremse und ein paar Wertigkeitsthemen. Den Homologationsstempels auf dem Endschalldämpfer finde ich unschön und ich habe auch die ein oder andere nicht so hübschen Schweißnaht entdeckt. Aber für 4990 € in den Basisfarben und 5190 € in den Sonderfarben kann man darüber auch hinwegsehen. Die Royal Enfield Scram 411 ist gesamthaft in meinen Augen ein attraktives Motorrad, ehrlich, zugänglich, preiswert und macht einfach richtig viel Spaß. Ich freue mich schon darauf, sie das erste Mal in freier Wildbahn zu sehen! #readysetscram